24.4.2017 I PSV lebt Integration in jeder Hinsicht vor

Ein bunt gemischtes Team, das Intergration vorbildlich vorlebt: Athleten des PSV Grün-Weiß Kassel.
Foto: mikü


Beim PSV Grün-Weiß Kassel wird Integration von jeher groß geschrieben. Schon in den 80er- und 90er-Jahren waren die Athleten Djilalli Abdesselam (Marathon-Bestzeit 2:17:09) und Mourad Bouknana (2:22:24) herausragende Beispiele für eine erfolgreiche Eingliederung. Die beiden damals jungen Algerier fanden in Kassel zunächst sportlich, dann auch beruflich und privat eine neue Heimat. Viele folgten danach. 
„Nirgendwo kann man Integration leichter beginnen als im Sport“, weiß Diplom-Trainer Winfried Aufenanger, 20 Jahre Bundestrainer der deutschen Marathonläufer, aus seiner langjähriger Erfahrung. „Wir sind im Lauf der Zeit Anlaufstelle für Flüchtlinge und Migranten geworden“, sagt Aufenanger, der noch heute fast täglich mit den Athleten aus Kenia, Äthiopien, Eritrea oder Somalia arbeitet. Simret Restle-Apel und zuletzt Melat Yisak Kejeta hat er zu Deutschen Meisterinnen über 10 km gemacht, Ybekal Daniel Berye holte unter seiner Regie Bronze bei den Deutschen Marathon-Meisterschaften und schaffte es 2015 auf Platz vier der Deutschen Jahresbestenliste (2:16:45). Das U23-Juniorenteam mit Musa Mummand Baher, Andebrhan Teklhamanat und Anbessjar Hagos Bisrat lief im letzten Jahr zur Deutschen Vizemeisterschaft über 10 km. Die Leichtathleten des PSV Grün-Weiß Kassel sind reich gesät mit diesen Talenten wie den aufstrebenden Somalier Hassan Jama Ice.
„Integration geht aber nicht von alleine, Integration steht und fällt mit dem Engagement einzelner Personen. Die Flüchtlinge brauchen Hilfe, sich in einer fremden Umgebung zurecht zu finden“, erklärt Nikolaj Dorka, der jüngst neu gewählte Sportwart der PSV-Leichtathletik-Abteilung. Dorka, selbst erfolgreicher Läufer mit einigen Medaillen bei Deutschen Meisterschaften, ist einer jener einheimischen Athleten in der großen grün-weißen Trainingsgruppe, die den ausländischen Teamkollegen jederzeit aktiv zur Seite stehen. „So“, sagt er, „integrieren sie sich bei uns spielerisch und es gibt kaum Berührungsängste, da das soziale Gefälle nicht erkennbar ist und die Atmosphäre beim Sport wesentlich gelöster ist als anderswo.“ 
Praktisch heißt das neben dem gemeinsamen Training vor allem Hilfestellung in allen Lebenslagen. Melat Yisak Kejeta, Elsa Kuma Zewde (beide anerkannte Asylbewerberinnen), Ybekal Daniel Berye, Anbessajer Hagos Bisrat, Hassan Ice und Sewnet Asrat Ayano haben eigene Wohnungen gefunden, Elsa Kuma Zewde, Sewnet Asrat Ayano, Ybekal Daniel Berye und Hassan Jama Ice Praktikumsplätze. „Behördengänge, juristische Beratung, Wohnungssuche, Jobvermittlung, Arztbesuche, all das ist bei uns längst Alltag“, erklärt Christoph Luckhard, Mitarbeiter im Büro des EAM Kassel Marathon, in dem die Fäden zusammenlaufen. PSV-„Evergreen“ Daniel Ghebreselasie floh vor über 20 Jahren selbst aus Eritrea nach Deutschland, wurde eingebürgert und ist für viele der jungen Teamkameraden neben „Aufi“ Ansprechpartner, Übersetzer, Helfer und Vorbild. 
„Sie gehören einfach zu uns und sind ein Teil unserer Familie“, betont Christoph Luckhard, „Laufen ist für sie Leben, hier vergessen sie ihr Schicksal und die Umstände ihrer Flucht nach Deutschland. Aber es wird ihnen oft nicht gerade leicht gemacht. Dennoch haben wir hier einen sehr guten Draht zu den Behörden und Institutionen wie dem Jobcenter, die uns in vielen Angelegenheiten unbürokratisch zur Seite stehen“
„Sportliche Erfolgsaussichten sorgen für eine sinnvolle Lebensaufgabe und stärken ihr Selbstbewusstsein“, bestätigt Sportwart Dorka, „man muss den Flüchtlingen eine Lebensperspektive, damit sie dann später voll in die Gesellschaft eingegliedert werden können.“
Beim PSV Grün-Weiß Kassel finden sie diese Perspektive. „Vor allem funktioniert die Integration durch die Bildung von gemeinsamen Mannschaften“, so Winfried Aufenanger, „daraus entwickeln wir gemeinsame Stärke.“
Doch der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) setzt genau da jetzt Zeichen, die in eine andere Richtung gehen und für diese Athleten und für Vereine wie den PSV, die sich auch jenseits von sportlichen Ansprüchen mit Herzblut engagieren, ein Schlag ins Kontor sind.


Neue Regel schafft Ausgrenzung statt Eingliederung

Seit diesem Jahr sind laut der neuen DLV-Regelung nur noch deutsche Staatsbürger bei Deutschen Meisterschaften startberechtigt. So können in den offiziellen Deutschen Bestenlisten nur Startberechtigte bei nationalen Meisterschaften aufgenommen werden. Für ausländische Läufer, Asylsuchende oder gar anerkannte Asylbewerber gilt:  Sie dürfen im jeweiligen Landesverband zwar für einen deutschen Verein starten, aber nicht bei nationalen Meisterschaften. Ein deutscher Startpass reicht also nicht mehr (bisher hatte Startrecht, wer mindestens ein Jahr den ständigen Wohnsitz im DLV-Gebiet und einen deutschen Startpass hatte). Ihre Leistungen in den Deutschen Bestenlisten werden nun mit einem Stern extra aufgeführt. Beispiel Melat Yisak Kejeta. Die 24-Jährige ist anerkannte Asylbewerberin aus Äthiopien, lebt seit einigen Jahren in Deutschland und ist amtierende Deutsche Meisterin über 10 km. Die Athletin des PSV Grün-Weiß Kassel lief jüngst in Den Haag und Berlin zweimal Deutsche Jahresbestzeit im Halbmarathon (1:11:00), war dort als Vierte nicht nur die beste Läuferin eines deutschen Vereins, sondern auch deutlich schneller als ihre deutschen Mitkonkurrentinnen. Dennoch wird ihre Leistung nun nicht als Topzeit und Nummer eins in der Bestenliste aufgeführt. „Ich bin sehr traurig darüber“, sagt Melat Yisak Kejeta, „ich würde so gerne meinen Titel verteidigen, doch ich darf nicht. Aber ich werde weiter jeden Tag trainieren und mein Bestes geben. “ Statt Deutscher Meisterschaft muss sie ihren Rennkalender nun auf andere Straßenläufe ausrichten. 
„Das kann so wirklich nicht sein“, kritisiert Trainer Winfried Aufenanger und spricht dabei auch als Vorsitzender des Vereins zur Förderung des Deutschen Straßenlaufs, „der DLV hat eine Regelung geschaffen, die klar der Ausgrenzung statt der Eingliederung dient.“ Dass dabei auch noch unterschiedliche Kriterien für Bundesverband und Landesverbände gelten, macht die Sache noch schlimmer. „Wie“, fragt Aufenanger, „soll ich das meinen Athleten vermitteln?“. So steht beim gerade in den Mannschaftswertungen deutschlandweit sehr erfolgreichen PSV Grün-Weiß Kassel zum Beispiel das Team immer an erster Stelle. Aufenanger: „Wir haben immer Wert gelegt, gute Teams zu stellen. Jetzt ist es fast unmöglich, Mannschaften zusammenzustellen, die in den Bestenlisten einheitlich auftauchen. Das ist ein einziges Durcheinander und ein komplett falsches Signal.“
Sportpolitisch ebenfalls. Denn vor allem in den Mannschaftssportarten sind Ausländer nicht wegzudenken, sie sind die Garantie für den Erfolg. Warum, fragen sich Leichtathletik-Trainer und Veranstalter von Laufveranstaltungen wie Aufenanger und  Karsten Schölermann (Hamburg) sowie die meisten Mitglieder der Veranstalter-Vereinigung German Road Races, soll das in der Leichtathletik anders sein? Schließlich fördern sogar Landesregierungen inzwischen so genannte Integration-Coaches in Sportvereinen ideell und finanziell.
„Wir engagieren uns jeden Tag für diese Athleten und werden jetzt dafür bestraft“, fordert Aufenanger eine Abkehr von der neuen Regelung, „ein Verband wie der DLV kann sich nicht einfach hinstellen und sagen, Ihr seid jetzt raus. Damit isoliert er sich.“ Schließlich gab es auch noch in jüngster Vergangenheit Situationen, da war der DLV sehr an einer schnellen Einbürgerung von Athleten interessiert, damit sie ihn international erfolgreich vertreten können.   
Jens Nerkamp (PSV Grün-Weiß Kassel) hat sich in den letzten Jahren zu einem der besten deutschen Läufer von 5.000 m bis Halbmarathon entwickelt und es ins Nationalteam bei der Halbmarathon-Europameisterschaft geschafft. „Wäre die neue Regel schon letztes Jahr in Kraft gewesen, hätte ich bei der Deutschen Halbmarathon-Meisterschaft Bronze gewonnen“, sagt er. Doch er kann damit leben. „Die Flüchtlinge kommen ja nicht hierher, nur weil sie laufen wollen, sondern aufgrund der Umstände in ihren Ländern. Ich profitiere im gemeinsamen Training von ihnen, so hat mir Ybekal Daniel Berye im Trainingslager sehr geholfen, weil ich immer bis über meine Leistungsgrenze gehen musste“, berichtet der 27-Jährige. 

„Sie bringen eine sehr gute Qualität mit und steigern auch die der anderen. Dieses Training hat mir dazu verholfen, dass ich in den letzten Jahren viel schneller geworden bin.“ Jens Nerkamp hat kein Problem damit, wenn sie bei Meisterschaften dabei sind. „Jeder von uns deutschen Topläufern will einmal international starten, da dürfen wir doch keine Angst haben vor den Flüchtlingen, die hierher kommen. Wir müssen uns mit ihnen messen, denn sie sind ja auch nicht die erste Garde. Es sollte unser Ehrgeiz sein, vor ihnen zu landen. Wir können uns Erfolg nicht nur leicht machen.“ Kritisch sieht Nerkamp es lediglich im Jugendbereich. Hier, sagt er, müsse das Alter klar sein, damit es ein fairer Wettkampf bleibt.

Aber dafür ist kein Sportverband, sondern sind Behören zuständig.

Texte: Michael Küppers
 


Mit dem Aufsehen erregenden Beitrag „Neue DLV-Regelung erschwert Integration von Flüchtlingen und Asylbewerbern in Deutschland“, erschienen am 5. April 2017 bei www.germanroadraces.de, hat die Interessenvereinigung der großen Läufe (GRR), zu der auch der EAM Kassel Marathon zählt, eine Diskussion entfacht.

In mehreren Beispielen aus der Praxis soll versucht werden, die in dieser Form vom DLV verabschiedete Regelung in Frage zu stellen.

GRR fordert vom Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) eine Abkehr von dieser starren und restriktiven Haltung.

Lesen Sie hier die neben den Berichten und Meinungen aus Kassel weitere interessante Hintergrundstorys: www.germanroadraces.de